Das Versicherungsrecht ist eine komplexe Materie, insbesondere wenn es um die Abgrenzung und Bewertung der sogenannten wissentlichen Pflichtverletzung geht. Die wissentliche Pflichtverletzung stellt einen zentralen Begriff im Versicherungsrecht dar, vorwiegend in der Vermögensschadenhaftpflichtversicherung für Rechtsanwälte und ähnliche Berufsgruppen.
Diese Pflichtverletzung bezieht sich auf das bewusste Abweichen von gesetzlichen, vertraglichen oder beruflichen Verpflichtungen, was oftmals zu Schadensersatzforderungen führt.
Der folgende Artikel untersucht die rechtlichen Grundlagen, die Bedingungen und die praktischen Implikationen der wissentlichen Pflichtverletzung im Kontext der Haftpflichtversicherung. Problematisch und existenziell für die Deckung in der Haftpflichtversicherung wird es, wenn der vermeintlich Geschädigte die Schadenherbeiführung durch wissentliche Pflichtverletzung vorbringt.
Was das Gesetz sagt
Im österreichischen Recht ist der Begriff der wissentlichen Pflichtverletzung nicht explizit definiert, sondern wird durch die Interpretation der Gerichte und die Praxis bestimmt. Nach Art 4.I.3 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen zur Haftpflichtversicherung für Vermögensschäden (AVBV 1951) sowie Art B.7.1 der Besonderen Bedingungen bezieht sich der Versicherungsschutz nicht auf Haftpflichtansprüche, die aus einer wissentlichen Pflichtverletzung resultieren.
Die versicherungsrechtliche und wirtschaftliche Bedeutung der wissentlichen Pflichtverletzung liegt darin, dass sie den Versicherungsschutz ausschließt. Dies schützt die Versichertengemeinschaft vor den Risiken, die aus bewusst rechtswidrigem Verhalten resultieren. Hier lesen Sie Beispiele für marktübliche Ausschlüsse in Versicherungsverbindung:
Artikel 4 Z 3 AVBV 1951
„wegen Schadenstiftung durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Anweisung oder Bedingung des Machtgebers (Berechtigten) oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung;“
Artikel 4 Z 3 AVBV, Fassung 1999 iVm Art 7.1 Besondere Bedingungen zur Vermögensschadenhaftpflicht-Versicherung für Rechtsanwälte
„wegen Schadenstiftung durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Anweisung oder Bedingung des Machtgebers (Berechtigten) oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung;“
„Art 4.1.3 AVBV wird ersetzt durch folgenden Wortlaut: Die Versicherung erstreckt sich nicht auf Haftpflichtansprüche Dritter infolge wissentlichen Abweichens von Gesetz, Vorschrift, Anweisung oder Bedingung des Auftraggebers.“
Artikel 8 Z 2.2 ABHV 2000 und EBHV 2000
„infolge bewussten Zuwiderhandelns gegen für seine beruflichen Tätigkeiten geltende Gesetze, Verordnungen oder behördliche Vorschriften, sowie infolge bewussten Zuwiderhandelns gegen Anweisungen oder Bedingungen des Auftraggebers oder dessen Bevollmächtigten oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.“
Artikel 8 Z 2.2 ABHV 2000 und EBHV 2000 idF 07/2012
„infolge bewussten Zuwiderhandelns gegen für seine beruflichen Tätigkeiten geltende Gesetze, Verordnungen oder behördliche Vorschriften, sowie infolge bewussten Zuwiderhandelns gegen Anweisungen oder Bedingungen des Auftraggebers oder dessen Bevollmächtigten oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.“
§ 4 Z 3 Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung in Österreich, AVB-Ö-Ausgabe Jänner 2010
„wegen vorsätzlicher Schadensverursachung oder wegen Schäden durch wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Anweisung oder Bedingung des Machtgebers (Berechtigten) oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.“
Artikel 8 Z 2.2 C_ABHV/EBHV
„infolge vorsätzlichen Zuwiderhandelns gegen für seine beruflichen Tätigkeiten geltende Gesetze, Verordnungen oder behördliche Vorschriften, sowie infolge vorsätzlichen Zuwiderhandelns gegen Anweisungen oder Bedingungen des Auftraggebers oder dessen Bevollmächtigten oder durch sonstige vorsätzliche Pflichtverletzung, soweit der schädigende Erfolg zumindest billigend in Kauf genommen wurde.“
Artikel 5 Z 2.1.2 AVB-A-Allgemein 2018-09
„infolge bewussten Zuwiderhandelns gegen für seine beruflichen Tätigkeiten geltende Gesetze, Verordnungen oder behördliche Vorschriften, sowie infolge bewussten Zuwiderhandelns gegen Anweisungen oder Bedingungen des Auftraggebers oder dessen Bevollmächtigten oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung.“
Pkt 1.3.6.4 AVBV 2020
„Der Versicherungsschutz bezieht sich nicht auf Haftpflichtansprüche wegen Schadenstiftung durch vorsätzliches Handeln (vgl. § 152 VersVG), wissentliches Abweichen von Gesetz, Vorschrift, Standesregeln oder Berufsausübungsnormen, Anweisung (Vorgaben) oder Bedingung des Machtgebers (Auftraggebers des Versicherungsnehmers) oder durch sonstige wissentliche Pflichtverletzung durch den Versicherungsnehmer, dessen Organe oder Repräsentanten oder Erfüllungsgehilfen.“
Voraussetzungen der wissentlichen Pflichtverletzung
Für die Annahme einer wissentlichen Pflichtverletzung genügt es, dass der Versicherungsnehmer seine Pflichtverletzung positiv gekannt hat und dass der Pflichtverstoß für den Schaden ursächlich war. Bedingter Vorsatz, also das bewusste Inkaufnehmen eines schädigenden Ereignisses, ist ausreichend. Es ist nicht erforderlich, dass der Versicherungsnehmer die genauen Wortlaute der verletzten Vorschrift kannte; entscheidend ist das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der Handlung.
Ein zentraler Punkt bei der Beurteilung einer wissentlichen Pflichtverletzung ist der Vorsatz. Dabei werden unterschiedliche Stufen des Vorsatzes unterschieden:
Direkter Vorsatz: Der Versicherungsnehmer handelt im Bewusstsein, dass sein Verhalten pflichtwidrig ist, und nimmt den Schaden billigend in Kauf.
Bedingter Vorsatz: Der Versicherungsnehmer erkennt die Möglichkeit eines Verstoßes und handelt dennoch. Schon diese Form des Vorsatzes genügt, um den Versicherungsschutz auszuschließen.
Es ist nicht erforderlich, dass der Versicherungsnehmer die genaue rechtliche Bedeutung seiner Handlung versteht. Es reicht aus, dass er sich der Rechtswidrigkeit seiner Handlung bewusst ist.
Wer muss was beweisen?
Die Beweislast für das Vorliegen einer wissentlichen Pflichtverletzung liegt beim Versicherer. Dieser muss nachweisen, dass der Versicherungsnehmer die Verletzung seiner Pflichten positiv gekannt hat. Indizienbeweise, wie der äußere Ablauf des Geschehens oder das Ausmaß des objektiven Pflichtverstoßes, können dabei herangezogen werden. So kann aus der Verletzung elementarer beruflicher Pflichten auf das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit geschlossen werden.
Bindung an Urteile: Was gilt im Haftungsprozess?
Wird in einem Haftungsprozess vom Anspruchsteller die wissentliche Pflichtverletzung bzw das Abweichen von Gesetzen oder Vorschriften vorgeworfen oder vom Gericht festgestellt, ist dies für die Entscheidung des Versicherers, ob Versicherungsschutz gegeben ist oder nicht, bindend, sodass sich der Versicherer auf den Deckungsausschluss berufen wird. Sollte festgestellt werden, dass keine wissentliche Pflichtverletzung vorlag, zum Beispiel durch Beschluss oder Urteil, hat der Versicherungsnehmer rückwirkend Anspruch auf Deckung. Bis zu diesem Zeitpunkt, muss der Versicherungsnehmer jedoch für alle Kosten aufkommen.
Vorwurf der Schadenherbeiführung durch wissentliche Pflichtverletzung und deren Rechtsfolgen
Wenn der vermeintlich Geschädigte dem Versicherungsnehmer vorwirft, Schaden durch wissentliche Pflichtverletzung oder sogar Vorsatz verursacht zu haben, muss die Beurteilung der Deckungsfrage auf dem geltend gemachten Anspruch und dem vom Geschädigten behaupteten Sachverhalt basieren. Dies gilt auch beim vorweggenommenen Deckungsprozess, wie vom OGH bestätigt wurde (OGH 24.04.2019, 7 Ob 142/18k).
Die wichtigste Konsequenz einer wissentlichen Pflichtverletzung ist der Verlust des Versicherungsschutzes. Das bedeutet, dass der Versicherer von seiner Leistungspflicht befreit wird. Dies ist eine Maßnahme, die sicherstellen soll, dass Versicherungsnehmer ihre vertraglichen Pflichten ernst nehmen und einhalten.
Für Versicherungsnehmer kann dies bedeuten, dass sie im Schadensfall selbst für die entstandenen Kosten aufkommen müssen, was insbesondere bei hohen Vermögensschäden gravierende finanzielle Folgen haben kann.
Entlastung durch rechtmäßiges Alternativverhalten?
In bestimmten Fällen besteht für Versicherungsnehmer die Möglichkeit, sich zu entlasten, indem sie nachweisen, dass der Schaden auch bei pflichtgemäßem Verhalten eingetreten wäre. Diese sogenannte „rechtmäßige Alternativverhalten“-Klausel ist in speziellen Haftpflichtversicherungen, wie der Vermögensschaden-Haftpflichtversicherung für Rechtsanwälte, enthalten. Der Nachweis ist jedoch oft schwierig und erfordert eine umfassende Dokumentation sowie rechtliche Beratung.
Judikatur
In der Rechtsprechung finden sich zahlreiche Fälle, die die Konsequenzen einer wissentlichen Pflichtverletzung aufzeigen. Ein prominentes Beispiel ist ein Fall, in dem ein Anwalt eine Zahlung vornahm, ohne die rechtlichen Bedingungen ausreichend zu prüfen, obwohl ihm die Unregelmäßigkeiten bekannt waren. Die Gerichte entschieden, dass diese Pflichtverletzung wissentlich erfolgt war und der Versicherungsschutz entfiel.
Auch in der Versicherungsvermittlung können wissentliche Pflichtverletzungen auftreten, z. B. wenn ein Vermittler vorsätzlich falsche oder unvollständige Informationen zu einem Produkt gibt, um eine Provision zu erzielen. In solchen Fällen kann der Versicherungsschutz verweigert werden, wenn ein Kunde aufgrund dieser Pflichtverletzung einen Schaden erleidet.
Hinweis: Ausgewählte Beispiele aus der Judikatur und Literatur finden Sie am Ende des Artikels.
So schützen Sie sich vor dem Deckungssausschuss
Um eine wissentliche Pflichtverletzung und deren Folgen zu vermeiden, sollten Versicherungsnehmer folgende Maßnahmen ergreifen.
Präventive Maßnahmen und Empfehlungen
- Sorgfältige Dokumentation: Alle Handlungen und Entscheidungen sollten schriftlich festgehalten werden, um im Bedarfsfall nachweisen zu können, dass keine bewusste Pflichtverletzung vorlag.
- Rechtsberatung einholen: Im Zweifelsfall sollte eine rechtliche Prüfung erfolgen, um sicherzustellen, dass alle Maßnahmen im Einklang mit den vertraglichen und gesetzlichen Vorgaben stehen.
- Regelmäßige Schulungen: Versicherungsnehmer sollten sich kontinuierlich über Änderungen in relevanten Gesetzen und Versicherungsbedingungen informieren.
- Interne Kontrollen: Ein System zur Überprüfung der Einhaltung aller Pflichten kann helfen, wissentliche Pflichtverletzungen zu verhindern.
Bewusstsein schützt vor bösem Erwachen: Conclusio und Empfehlungen
Die wissentliche Pflichtverletzung ist ein zentraler Begriff im Haftpflichtversicherungsrecht, der dazu dient, die Grenzen des Versicherungsschutzes klar zu definieren und Versicherer vor vorsätzlich oder bewusst fahrlässigem Verhalten zu schützen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen und die Praxis zeigen, dass eine differenzierte Betrachtung der Umstände und der Beweisführung notwendig ist, um eine wissentliche Pflichtverletzung festzustellen. Die juristische Praxis bietet dabei zahlreiche Beispiele, die die Bedeutung und die Anwendung dieses Begriffs verdeutlichen. Schon der Vorwurf einer Pflichtverletzung kann zum Verlust der Versicherungsdeckung führen, und so zu einem finanziellen Problem für den Versicherungsnehmer werden.
Ein umsichtiges Vertragsmanagement und die Einhaltung aller Obliegenheiten schützen nicht nur den Versicherungsschutz, sondern bewahren den Versicherungsnehmer vor finanziellen und rechtlichen Nachteilen.
OGH 24.04.2019, 7 Ob 142/18k
https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20190424_OGH0002_0070OB00142_18K0000_000/JJT_20190424_OGH0002_0070OB00142_18K0000_000.html
OGH 19.2.2020, 7 Ob 161/19f
https://ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20200219_OGH0002_0070OB00161_19F0000_000/JJT_20200219_OGH0002_0070OB00161_19F0000_000.html
OGH 19.2.2020, 7 Ob 70/19y
https://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20200424_OGH0002_0070OB00206_19Y0000_000/JJT_20200424_OGH0002_0070OB00206_19Y0000_000.html
OGH 27.1.2021, 7 Ob 148/20w,
https://ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20210127_OGH0002_0070OB00148_20W0000_000/JJT_20210127_OGH0002_0070OB00148_20W0000_000.html
flOGH 5.5.2023, 09 CG.2021-299, PSR 2023/51
OGH 27.9.2023, 7 Ob 96/23b
https://ris.bka.gv.at/Dokumente/Justiz/JJT_20230927_OGH0002_0070OB00096_23B0000_000/JJT_20230927_OGH0002_0070OB00096_23B0000_000.html
Fachverband der Versicherungsmakler und Berater in Versicherungsangelegenheiten, Versicherungsrechts-NEWS 11/2019, https://www.wko.at/oe/information-consulting/versicherungsmakler-schlichtungsstellen/versicherungsrechts-news-11-2019.pdf (Stand 08.07.2024), 8
Grubmann, VersVG9 III.2.9.4 Vermögensschadenhaftpflicht-Versicherung für RA Allgemeine Bedingungen für die Vermögensschadenhaftpflicht-Versicherung für Rechtsanwälte (Stand 1.7.2022, rdb.at)
Grubmann, VersVG9 III.2.9.2 AVBV Allgemeine Versicherungsbedingungen zur Haftpflichtversicherung für Vermögensschaden1) (Stand 1.7.2022, rdb.at)
OGH, Vorweggenommener Deckungsprozess in der Haftpflichtversicherung, https://www.ogh.gv.at/entscheidungen/entscheidungen-ogh/vorweggenommener-deckungsprozess-in-der-haftpflichtversicherung/ (Stand 08.07.2024)
Michtner, Bewusstes Zuwiderhandeln gegen behördliche Vorschriften und wissentliche Pflichtverletzung – durchsetzbare Risikoausschlüsse in der Haftpflichtversicherung?, versdb print 2024 H 13ff
VKI, Haftpflichtversicherung: vorweggenommener Deckungsprozess, https://verbraucherrecht.at/urteil-haftpflichtversicherung-vorweggenommener-deckungsprozess/4234?id=49&tx_ttnews%5Btt_news%5D=4418&cHash=X (Stand 08.07.2024).
Reisinger, Salficky, Haftpflichtversicherung: Trennungsprinzip, vorweggenommener Deckungsprozess, ZVers 2019, H 5, 265ff
Kriwanek, Tuma, Haftpflichtversicherung: Vorweggenommener Deckungsprozess, RdW 2019, H 8, 533ff
Vonkilch, Das Vorbringen des geschädigten Dritten im vorweggenommen Deckungsprozess, ZVers 2023 H 2, 46ff
Wiener Neustadt, 15.07.2025
Bildnachweis: envato